Ko-Kuration als Praxis: Verantwortung teilen, Perspektiven öffnen

Ko-Kuration ist längst mehr als ein Trendbegriff im Kulturbetrieb. Sie steht für eine Verschiebung von Machtverhältnissen, für neue Formen des Zusammenarbeitens und für eine Öffnung hin zu pluralen Perspektiven. Statt Inhalte „von oben“ zu kuratieren, verstehen wir Ko-Kuration als Einladung zur geteilten Autor:innenschaft. Dabei geht es nicht nur um die Beteiligung am Endprodukt, sondern um ein gemeinsames Nachdenken, Entscheiden und Gestalten über den gesamten Prozess hinweg.

Was bedeutet Ko-Kuration?

Ko-Kuration meint die gemeinschaftliche Entwicklung kuratorischer Inhalte durch verschiedene Beteiligte, oft aus unterschiedlichen Kontexten. Das können Künstler:innen, Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen, Communities, Kulturinstitutionen oder auch Jugendliche sein. Ko-Kuration beginnt mit der Frage: Wessen Geschichte wird erzählt – und wer erzählt sie wie?

Die Praxis ist stark kontextabhängig: Mal steht sie im Zeichen transkultureller Verständigung, mal in der kulturellen Bildung, mal in der Arbeit mit marginalisierten Gruppen. Doch ihr Kern bleibt gleich: Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, Macht wird geteilt, und das Ergebnis spiegelt nicht die Handschrift einer kuratorischen Instanz, sondern vieler.

Warum Ko-Kuration wichtig ist

Klassische kuratorische Prozesse – etwa in Museen, Festivals oder Archiven – sind oft von einer kleinen Gruppe definiert. Das führt zu Ausschlüssen: Perspektiven von Menschen mit Rassismuserfahrung, mit Behinderung, aus dem Globalen Süden oder aus nicht-akademischen Kontexten fehlen oft. Ko-Kuration setzt dem etwas entgegen. Sie schafft Räume, in denen unterschiedliche Wissensformen – akademisch, künstlerisch, biografisch, emotional – gleichberechtigt nebeneinanderstehen.

Der Anthropologe Victor Turner sprach von „liminal spaces“, Schwellenräumen zwischen Ordnung und Chaos, Alltag und Ausnahme. Ko-kurative Räume sind solche Übergangszonen: temporär, instabil, aber voller Potenzial. Sie ermöglichen neue Narrative, Beziehungen und Erkenntnisse.

Herausforderungen: Zwischen Anspruch und Realität

Ko-Kuration ist kein Allheilmittel. Sie braucht Zeit, Vertrauen, Ressourcen – und sie ist nicht konfliktfrei. Oft treffen unterschiedliche Sprachen, Arbeitsweisen und Erwartungen aufeinander. Wer entscheidet im Zweifel? Wer trägt Verantwortung? Wie können Machtverhältnisse wirklich hinterfragt statt nur neu verteilt werden?

Eine zentrale Herausforderung liegt in der strukturellen Verankerung: Viele ko-kurative Projekte werden als Ausnahme gefördert, selten aber langfristig in institutionelle Praxis überführt. Auch fehlt es oft an Qualifizierungsangeboten für Ko-Kuration – sowohl für professionelle Kurator:innen als auch für neu eingebundene Communitys.

Die international tätige Ausstellungskuratorin Ute Meta Bauer weist in einem Interview darauf hin, dass es im kuratorischen Prozess oft eine Hierarchie gibt – und gleichzeitig ein Bedürfnis nach Mitgestaltung: „In meiner Zusammenarbeit mit dem Team ist lebendige Debatte essenziell. Leider haben wir immer weniger Zeit dafür, und das wirkt sich negativ auf Projekte aus.“

Best Practices: Projekte, die Räume öffnen

„Remembering and Returning Home“ – Kamcing Tribe & National Museum of Prehistory, Taiwan

Ein eindrückliches Beispiel für gelungene Ko-Kuration: Die indigene Kamcing-Community in Taiwan arbeitete gemeinsam mit dem National Museum of Prehistory an einer Ausstellung, die ihre eigene Geschichte erzählt – jenseits kolonialer Ethnografie. Die kuratorische Kontrolle lag bei der Community selbst, das Museum agierte unterstützend. Das Ergebnis: eine mehrstimmige, empowernde Präsentation lokaler Erinnerungskultur, entstanden durch Feldforschung, Workshops und kollektives Kuratieren.

BIRDS ON PERIPHERIES – SPIELART Festival München

Das Festival lud 2023 acht internationale Co-Kurator:innen ein, ein gemeinsames Programm zu entwickeln. Der südafrikanische Choreograf Boyzie Cekwana beschreibt die Ko-Kuration als Versuch, „die verschiedenen Stimmen eines Chors zu versammeln, um gemeinsam ein Lied zu singen“. Ziel war es nicht, Konsens zu erzeugen, sondern einen offenen Raum des Zuhörens, Experimentierens und Fragens zu schaffen. Das Projekt stellte bewusst die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Realitäten ins Zentrum.

Halle/Saale: FREIRAUM-Projekte

Das Freiraum-Projekt in Halle arbeitet seit Jahren mit partizipativen Ansätzen und kooperativen Formaten. In Zusammenarbeit mit Jugendlichen und lokalen Communities entstehen dort Stadtprojekte, die kollektive Perspektiven sichtbar machen – auch wenn sie selbst nicht ausdrücklich als Ko-Kuration bezeichnet werden.

Freiraumgalerie Halle

Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB)

Die Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) erprobt Ko-Kuration im Rahmen von Citizen-Science-Projekten, die sich mit offenen Kulturdaten und digitaler Wissensvermittlung beschäftigen. In Zusammenarbeit mit bürgerschaftlich Engagierten, Forschungseinrichtungen und Kreativschaffenden entstehen Formate, in denen die Grenzen zwischen Expert:innen und Nutzer:innen bewusst aufgebrochen werden.

Ein Beispiel ist das Projekt Offene Kulturdaten sichtbar machen, bei dem historische Bildbestände gemeinsam erschlossen, verschlagwortet und kontextualisiert wurden. Die SLUB stellt hierfür nicht nur Infrastruktur und Archivgut zur Verfügung, sondern versteht sich als aktive Moderatorin gemeinsamer Wissensproduktion.Der Anspruch: eine öffentliche Bibliothek als Ort partizipativer Erinnerungskultur und kultureller Verhandlung – digital wie analog.

HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste

Das Residenzprogramm „Moving Identities“ arbeitet mit kuratorischen Tandems, die gezielt unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen einbringen. Hier stehen Austausch, Co-Kreation und kulturelle Vielfalt im Fokus. Das Programm verbindet Künstler:innen aus verschiedenen Ländern mit lokalen Initiativen und schafft kollaborative Räume für neue Narrative.

Ko-Kuration als Demokratisierung kuratorischer Praxis

Die Soziologin Nora Sternfeld spricht von „kritischer Vermittlung“: Vermittlung nicht als Vereinfachung, sondern als Aushandlung. In diesem Sinne ist Ko-Kuration auch politische Arbeit. Sie stellt die Fragen nach Repräsentation, Zugang, Verantwortung und Macht immer wieder neu.

Kuratorische Praxis wird damit fluider – nicht als Verzicht auf Expertise, sondern als Erweiterung durch kollektive Intelligenz. Der Begriff der „Co-Elaboration“ (Cekwana) beschreibt das gut: Wissen wird gemeinsam erarbeitet, nicht verordnet. Das braucht Mut, aber auch klare Strukturen.

Was braucht gelingende Ko-Kuration?

  • Zeit & Vertrauen: Ko-Kuration beginnt mit Beziehung. Ohne Vertrauen kein gemeinsames Arbeiten.
  • Ressourcen & Honorare: Beteiligung muss ernst genommen und fair bezahlt werden.
  • Transparenz & Kommunikation: Was ist verhandelbar? Was nicht? Wer entscheidet was?
  • Weiterbildung & Reflexion: Ko-Kuration lässt sich lernen – durch Austausch, Fehler und Praxis.
  • Strukturelle Verankerung: Ko-Kuration darf kein Sonderfall bleiben, sondern muss Teil institutioneller Strategien werden.

Fazit: Ko-Kuration weiterdenken

Ko-Kuration ist mehr als ein methodisches Werkzeug – sie ist eine Haltung. Eine, die Verantwortung teilt, Wissen dezentralisiert und neue Perspektiven öffnet. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung, wachsender Diversität und institutioneller Vertrauenskrisen bietet sie einen Weg, Kulturarbeit demokratischer, relevanter und wirksamer zu gestalten.

Wer kuratiert, entscheidet, was gezeigt, erzählt und erinnert wird – und wer sprechen darf. Diese Macht neu zu denken und zu teilen, ist kein Kontrollverlust, sondern eine Einladung zur kollektiven Gestaltung. Ko-Kuration ist dabei kein fertiges Modell, sondern ein lernender Prozess. Doch gerade darin liegt ihre Stärke: Als soziale, ethische und kreative Praxis ermöglicht sie neue Formen der Teilhabe – und macht Kulturinstitutionen zukunftsfähig.


Quellen: